Ein Brief Sarafov's
Am Tage der Überschreitung der türkischen Grenze richtete Boris Sarafov an einen Freund unseres Blattes folgenden Brief, der uns in den Ideengang dieses fanatischen Revolutionärs einen Einblick gewährt:
Sehr geehrter Herr, auf Ihre an mich vor kurzem gerichtete Anfrage bin ich erst jetzt in der Lage zu antworten. Sie fragen mich, ob es nicht an der Zeit wäre, jetzt, wo Europa die Sache der Makedonier in die Hand genommen hat, unsere revolutionäre Tätigkeit aufzugeben.
Wir antworten, daß wir uns als Verräter unseres unglücklichen Vaterlandes betrachten müßten, wenn wir unsere revolutionäre Tätigkeit einstellten, bevor wir einen wesentlichen Nutzen von der Intervention Europas in unsere Sache erblicken. Sie wissen, daß ich Europa wiederholt für die Christen in der Türkei auf diplomatischen Wege verwendet hat, aber jedesmal war das Ergebnis statt Reformen eine Massenabschlachtung der Christen. Das Beispiel der Armenier ist noch in frischer Erinnerung. Das Blut von 10000 Armeniern ist noch nicht in den Straßen Konstantinopels ausgetrocknet. Wir haben folglich allen Grund, im Hinblick auf das Resultat der diplomatischen Intervention Europas Skeptiker zu sein. Für uns ist es umumstößliche Wahrheit, daß in unserem vielgeprüften Vaterland nur dann die Möglichkeit eines einigermaßen menschenwürdigen Daseins gegeben sein wird, wenn wir darin einige Regimenter europäischer Truppen sehen werden. Es ist lächerlich zu glauben, daß wir in der Lage wären, durch eine Revolution die Türken aus Europa zu vertreiben, aber glauben Sie mir, daß die zur Verzweiflung getriebene christliche Bevölkerung Makedoniens genügend vorbereitet ist, ihr unerträgliches Leben teuer zu verkaufen. Wird denn Europa nicht endlich erzittern angesichts der schrecklichen Opfer, welche die christliche Bevölkerung Makedoniens bereit ist für ihre Freiheit zu geben?
Man glaubt allenthalben, daß solche Reformen, wie wir sie verlangen, nicht alle Balkanstaaten befriedigen können und ihren Protest herausfordern könnten, Bulgarien vielleicht ausgenommen.
Wir haben bereits zu wiederholtenmale erklärt, daß unsere Frage keine nationale sondern eine kulturelle ist. Bei ihrer Lösung hat nur die mit Todesverachtung kämpfende makedonische Bevölkerung das Wort und nur dieser Stimme hat Europa Gehör zu schenken, wenn es die Sache wirklich als eine humane ansehen will. Oder sollen wir, wenn wir uns anschicken, einen Menschen aus dem Rachen eines Tigers zu befreien, zunächst untersuchen, ob seine Befreiung einem Dritten genehm sein wird oder nicht?
Wir verlangen solche Reformen, wie sie uns der Berliner Vertrag garantiert. Die Türkei wird uns dieselben ohne eine bewaffnete Intervention von Seiten Europas nicht geben. Eben deshalb greifen wir zu den Waffen und wenn wir in diesem ungleichen Kampfe am Leben bleiben, werden wir die Waffen nur in die Hände europäischer Soldaten niederlegen.
Mit einem Vorgefühl, daß wir diesmal das Opfer unserer heiligen Pflicht am Altar unseres vielgeliebten Vaterlandes sein werden, lassen wir uns in den ungleichen Kampf ein. Möge auf dem mit dem Blute so vieler Opfer getränkten Boden die Sonne der Freiheit erleuchten!
Lesetipp - Interview mit Sarafov in der Times: Wir Makedonier sehen uns als eine völlig eigenständige Nation an
QUELLE: Die Zeit, Nr. 164, 2. Jahr, Ein Brief Sarafow's. Samstag, 14. März 1903
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