Eine Übersetzung von Benjamin Langer "Grenzen, Scheidungslinien, Fronten in Mazedonien vor 1914" von Nikola Gelevski (Über den Autor mehr am Ende des Artikels).
DREI SZENEN MIT MAZEDONISCHEN REVOLUTIONÄREN TERRORISTEN
Ein interessanter amerikanischer Schriftsteller mazedonischer Herkunft, Stoyan Christowe (1898-1996) – er schrieb Romane, Erzählungen, Reportagen und Reisebeschreibungen in englischer Sprache – war als Vierzehnjähriger aus der Gegend von Kostur in Agäis-Mazedonien nach Amerika gekommen. Als Korrespondent einiger amerikanischer Zeitungen hielt er sich von 1927 bis 1929 wieder auf dem Balkan auf. In dieser Zeit führte er Gespräche mit dem berüchtigten Anführer der IMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) Ivan Mihajlov, mit Vlado Černozemski, der später das Attentat auf König Alexander verüben sollte, und dem bulgarischen Zaren Boris. Auch 1952 weilte Christowe auf dem Balkan und besuchte Skopje. Er war Mitglied des Vermont State House of Representatives (1951-1955) und des Vermont State Senate (1959-1972). Den knapp gehaltenen Lexikonartikeln über ihn lässt sich entnehmen, dass Präsident Franklin Roosevelt ein großer Bewunderer seines autobiografischen Buches This Is My Country (1938) war.
Im Versuch, das psychologische Profil des mazedonischen Revolutionärs um die Jahrhundertwende zu umreißen, habe ich Christowes Buch Heroes and Assassins (1935) einige pittoreske Szenen aus der Zeit des mazedonischen revolutionären Kampfes entnommen. Obwohl Christowe die mazedonischen „Komitadschi“ stark idealisiert, sind einige Schilderungen aus seinen historischen Reportagen zwiespältig.
Als Christowe den jungen Goce Delčev beschreibt, das Schlüsselsymbol des mazedonischen revolutionären Kampfes, lässt er Delčev und Dame Gruev (den Ideologen der IMRO und zweiten Mann der Organisation) einander zum ersten Mal in Štip begegnen, und zwar unmittelbar nach Delčevs Rückkehr nach Mazedonien. Beide waren Lehrer in dieser Stadt. Laut Christowe sagte Delčev das Folgende zu seinen Schülern: „Hört mal zu, Jungs. Niemand, der es am Ende des Halbjahres nicht schafft, über eine dieser Bänke zu springen, wird versetzt. Jeden, der nicht zurückschlägt, wenn er geschlagen wird, verprügele ich persönlich. Und ich werde jedem die Zunge abschneiden, der seinen Kameraden hinterherschnüffelt und sie bei mir verpfeift. Auch ihr selbst sollt jeden bestrafen, von dem ihr meint, dass er etwas Falsches getan hat.“ Christowe kommentiert: „Das stand voll und ganz im Einklang mit seinem Verhalten als Schüler am bulgarischen Gymnasium in Saloniki. Dort hatte seine Klasse einmal eine Verschwörung gegen den Lehrer angezettelt, doch einer der Schüler verriet das Komplott. Der dreizehnjährige Goce aus Kukuš wollte lieber hängen als den Verräter unbestraft davonkommen zu lassen. Deshalb stieß er ihm ein Messer in den Rücken.“
Christowe präsentiert uns noch eine interessante Szenerie, die das Bild des mazedonischen Revolutionärs zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzufangen vermag: Von der zehnköpfigen Gruppe der „Saloniker Attentäter“ (die 1903 eine Reihe spektakulärer terroristischer Aktionen an mehreren Orten in Saloniki ausübten) überlebten vier die terroristische Tat: Pavel Šatev, Georgi Bogdanov, Marko Bošnakov und Milan Arsov. Sie wurden von einem außerordentlichen Militärgericht zum Tode verurteilt, doch Sultan Hamid verringerte ihr Strafmaß zu lebenslanger Haft. Drei Jahre verbrachten sie in den Verliesen der Festung der sieben Türme oberhalb von Saloniki. Dann wurden sie zusammen mit 150 mazedonischen politischen Gefangenen in Ketten gelegt und auf das Schiff nach Tripolis gebracht. Von Tripolis aus schleppten sie sich 1000 Kilometer durch die Sahara. Nach Wochen voller Qualen und Agonie erreichten sie das Gefängnis der Stadt Mursuk in der Provinz Fesan. Bošnakov und Arsov starben in Mursuk. Kurz nach ihrem Tod wurde im Jahr 1908 als Folge der jungtürkischen Revolution eine allgemeine Amnestie für politische Gefangene verkündet. Šatev und Bogdanov wurden freigelassen, wollten aber nicht ohne die Leichname ihrer Kameraden fortgehen. Die Gesundheitsbehörden erlaubten ihnen jedoch nicht, sie zu exhumieren. Deshalb entschlossen sich Šatev und Bogdanov, die Leichname ihrer Kameraden illegal selbst auszugraben. Sie planten, die Knochen mitzunehmen, doch laut Šatev waren die Knochen noch von verwesendem Fleisch bedeckt. Weil sie die Knochen also nicht nehmen konnten und es unmöglich war, die verwesenden Körper fortzutragen, zogen sie ihre Messer heraus und schnitten den Leichnamen die Köpfe ab. Am nächsten Morgen legten sie die Köpfe in Blechkanistern voller Jodoform ein. So brachten sie die Köpfe ihrer Kameraden durch die Sahara zurück und lieferten sie bei deren Eltern in Mazedonien ab.
Die dritte Szene, die ich ausgewählt habe, zeigt die beiden umstrittenen IMRO-Anführer Todor Aleksandrov und Aleksandar Protogerov, die in eine ganze Kette von politischen Morden und Gewalttaten verwickelt waren, wie sie auf dem höchsten Gipfel des Pirin-Gebirges stehen, dem El-Tepe („Gipfel der Stürme“). Christowe schreibt: „Der El-Tepe ist immer in Nebel und Wolken gehüllt. Der ‚Gipfel der Stürme‘ ist nur fünfzehn Fuß niedriger als der Musala in Bulgarien und 70 Fuß niedriger als der Olymp, der höchste Berg auf dem Balkan. Die Mazedonier häuften Felsbrocken auf dem ‚Gipfel der Stürme‘ auf, und mit jedem neuen Felsbrocken wurde das Pirin-Gebirge höher. Als Aleksandrov und Protogerov den Gipfel erreichten, brachten sie Felsbrocken von tiefer gelegenen Orten mit, fügten sie zum Haufen hinzu und trugen so zur Höhe bei. Die beiden standen dort wie Adler in schwindelnder Höhe.“
MAZEDONIEN UND DIE BALKANKRIEGE
Mazedonien ist ein geografisches Gebiet von rund 67.000 km². Heute gehört dieses Territorium zu drei Staaten: Republik Griechenland, Republik Bulgarien und Republik Mazedonien. Es ist viel Blut vergossen worden, bis diese Staaten sich untereinander und vom Osmanischen Reich abgegrenzt hatten, und vielleicht auch, bis festere zivilisatorische Grenzen zwischen dem Osten und dem Westen gezogen waren. Auf eine bestimmte Art ist also Mazedonien die Grenze.*
Auf dem Territorium Mazedoniens spielte sich in der Zeitspanne, die vom Ilinden-Aufstand (1903), der Jungtürkischen Revolution (1908), den Balkankriegen (1912-1913) und dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) umfasst wird, praktisch auch ein kontinuierlicher Bürgerkrieg ab. Zum Beispiel wurden laut den Daten, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der englischen Presse und im britischen Parlament vorgestellt wurden, zwischen 1904 und 1908 in Mazedonien etwa 10.000 Menschen getötet. Bei der Sitzung des Unterhauses des Britischen Parlaments am 26.10.1906 wurde die Angabe gemacht, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 1906 im Saloniker Vilayet 577, im Vilayet Bitola 481 und im Vilayet Skopje 188 Menschen umgebracht worden waren.
Hauptakteure in den politischen Geschehnissen in Mazedonien waren die jungen Staaten Griechenland, Serbien und Bulgarien sowie das Osmanische Reich, das formell das mazedonische Territorium kontrollierte. Doch auch Österreich-Ungarn, Russland, Deutschland, Italien, Frankreich und England hatten bedeutenden Einfluss auf die politischen Beziehungen.
Der Gebietshunger der jungen Staaten Griechenland, Serbien und Bulgarien war groß. Zum Beispiel wurden – mit einigen Unterbrechungen – ganze fünfzehn Jahre lang (1897-1912) Verhandlungen zwischen Bulgarien und Serbien über die Definition ihrer jeweiligen Interessen in Mazedonien geführt. Serbien sprach sich konstant für eine Teilung Mazedoniens aus, während die Haltung Bulgariens variierte, je nach seiner Position in den internationalen Beziehungen. Sie bewegte sich zwischen Forderungen nach Teilung und nach Autonomie, wobei sich hinter der nach Autonomie meistens die Absicht verbarg, ganz Mazedonien einzuheimsen.
Die Balkankriege brachen am 18.Oktober 1912 aus. Sie waren der Auftakt zu einem langen, sechsjährigen Krieg, der mit kleinen Unterbrechungen bis 1918 dauerte. Mazedonien war einer der Haupt-Kriegsschauplätze. Der amerikanische Schriftsteller Stoyan Christowe schildert in seinem Buch Heroes and Assassins ein bizarres Detail zum Beginn der beiden Balkankriege: Todor Lazarov, ein Mazedonier aus Bulgarien, der glaubte, dass seine Heimat nach dem Sturz des Osmanischen Reichs endlich frei sei, erschoss sich vor Freude selbst. Er wusste nicht, dass die balkanischen Verbündeten im Jahr 1912, noch vor ihrer Kriegserklärung an die Türkei, Mazedonien heimlich untereinander aufgeteilt hatten. Dieses Geschehnis ist vielleicht eine gute Illustration der kranken politischen Gemüter der Mazedonier im Jahr 1912.
Nach mehrhundertjähriger Herrschaft brach das Osmanische Reich innerhalb von nur anderthalb Monaten zusammen. In Mazedonien hatte es 517 Jahre lang geherrscht.
Die Unterzeichnung eines Friedensvertrags zwischen der Balkan-Allianz und dem Osmanischen Reich in London (30.5.1913) war nur eine kurze Verschnaufpause auf dem Weg zu einem neuen kriegerischen Zusammenstoß, jetzt aber zwischen Bulgarien und den anderen beiden Mitgliedern der Allianz. Dieser Krieg begann am 29. Juni 1913. Das mazedonische Volk befand sich plötzlich in einem Sandwich. Laut den Daten der Carnegie-Kommission, die sich nur auf den ägäischen Teil Mazedoniens beziehen, wurden rund 170 Dörfer und 16.000 Häuser von der griechischen Armee zerstört. Die Städte Voden, Njeguš, Strumica, Kukuš und Dojran wurden schwer beschädigt. Unter dem Druck, den der griechische Terror ausübte, verließen über 100.000 „Slawo-Mazedonier“ das Land.
(Goce Delčev, der wichtigste revolutionäre Anführer der Mazedonier, stammte aus Kukuš, einem der Zentren der mazedonischen Wiedergeburt in unmittelbarer Nähe von Saloniki. Am 4. Juli 1913 steckte die griechische Armee bei einer Operation ethnischer Säuberungen die Stadt und noch vierzig Dörfer um sie herum in Brand. Laut dem angesehenen mazedonischen Historiker Ivan Katardžiev, dessen Buch Mazedonien hundert Jahre nach dem Ilinden-Aufstand ich für die Zwecke dieses Textes herangezogen habe, wandte die griechische Armee diese Methode ethnischer Säuberung überall an, wo sie nur konnte, sogar in den Teilen Mazedoniens, die unter serbischer Besatzung standen.)
Miroslav Krleža, einer der bedeutendsten jugoslawischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wirft in einer seiner 99 Variationen einen interessanten Blick auf die beiden Balkankriege; den ersten, in dem die Türken vom Balkan vertrieben wurden, und den zweiten, in dem Griechenland, Bulgarien und Serbien um das Territorium Mazedoniens kämpften:
„Das Blut von Kumanovo war noch nicht getrocknet, als nur acht Monate später die Schlacht an der Bregalnica wie mit einem Kanonenschlag alle lyrischen Illusionen zerstörte, von denen ganze südslawische Generationen geglaubt hatten, sie seien Teil des Überlebens unseres Volkes. Im Qualm und im Feuer der Bregalnica-Schlacht (Juli 1913) lernten wir, dass der zynische Machiavellismus der kleinen Balkan-Dynastien Realität war, während Lisinskis Partitur, die illyrischen Phantasmagorien, die Džakovaćsche Idylle und die Sehnsucht nach Prizren nur schnöde Rhetorik waren. Das Saldokonto der europäischen Banken von Sankt Petersburg bis Berlin und Paris lombardierte die Symbole von Kumanovo zu seinen Gunsten, und uns (Engelsschen) wurde erklärt, dass nicht die Sopoter Fresken die Welt regieren, sondern die Banken, die Könige und die Kanonen. Wir befanden uns vor einem Leninschen ‚merkwürdig abstoßenden‘ Zusammenbruch der europäischen Zivilisation, am imperialistischen Magnetpol von Kriegen und Massakern, die nunmehr seit vierzig Jahren andauern.“
Nach der Niederlage Bulgariens fanden vom 28. Juli bis zum 10. August 1913 in Bukarest Friedensverhandlungen statt. Am 10. August 1913 wurde der Bukarester Friedensvertrag unterzeichnet. Mit diesem Vertrag wurde Mazedonien dreigeteilt.
Die Periode zwischen den Balkankriegen und dem Beginn des Ersten Weltkriegs (29. Juli 1914) bis zum Kriegseintritt Bulgariens auf der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns unterschied sich in Mazedonien wenig von der Zeit vor der Unterzeichnung des Bukarester Vertrags. Wie Katardžiev sagt: Alles, was dem mazedonischen Volk zukünftig zustoßen sollte, resultierte aus den Ergebnissen der Balkankriege – aus der Teilung.
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* Die Grenze ist fest im Land verwurzelt. Von ihrer ursprünglichen Herkunft zeugen zahlreiche Termini in fast allen menschlichen Sprachen. Sehr oft bedeutet die Grenze eine Furche, die die Pflugschar im Boden hinterlässt. Für die Welt zur Zeit der Latiner ist die Spur des Pflugs die Urfurche, jene ursprüngliche Furche, die den städtischen Raum begründete und den städtischen Horizont bezeichnete; sie ist die Linie, die die Stadt vom Dorf trennt, das Innere vom Äußeren. Doch noch mehr als das: Mit dem Pflug die Grenze zu bezeichnen bedeutet, die Beziehung von Erde und Himmel zu besiegeln. Diesen Ort haben nicht die Menschen ausgewählt, sondern die Götter entdeckt, und derjenige, der die Furche zieht, ist mehr Priester als Herrscher.
In diesem ersten Einkerben des Bodens gibt es etwas von einem Opfer, liegt der Keim der archaischen Gewalt. Rom zum Beispiel entsteht, als Romulus Remus opfert, der es in seiner Dreistigkeit gewagt hat, die heilige, gerade erst gezogene Grenze zu überspringen und so zu negieren. Das Herumspielen mit Grenzen kann ausgesprochen gefährlich werden; bei ihnen sind das Tragische und das Komische eng miteinander verbunden.
Das italienische Wort für Grenze, frontiera, so wie auch das spanische frontera, das französische frontiere und das englische frontier – alle diese Worte beinhalten das Nomen „Front“. Die Linie, die der Herrscher mit dem Lineal (auf Lateinisch regula) zieht, bestimmt nicht nur das räumliche Territorium, sondern stellt auch eine regula dar, eine Regel, an die wir uns halten müssen, um aufrecht zu bleiben.
QUELLE: KRITISCHE MASSE Aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer (Anmerkung - über Benjamin Langer mehr hier in unserem Beitrag: Mazedonienimaginationen in der deutschsprachigen Literatur seit dem 19. Jahrhundert - Benjamin Langer)
Über NIKOLA GELEVSKI:
Geboren 1964 in Skopje. Er studierte Komparatistik und leitet seit 1989 den Verlag Templum. Als prominentester Kolumnist des Jahres erhielt er 2007 den Borjan-Tanevski-Preis. Neben seiner Arbeit als Verlagsleiter, Redakteur, Übersetzer und Autor gründete er den Verein Kontrapunkt und ist Mitbegründer dreier weiterer Vereine (Točka, Ploštad Sloboda, GEM).
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